Folgen der Umschulung der Händigkeit

Ein massiver Eingriff ins menschliche Gehirn

Johanna Barbara Sattler

Die Händigkeit des Kindes wird auch heute noch von vielen Menschen als eine Frage der Geschicklichkeit angesehen.

Die Händigkeit ist jedoch ein Ausdruck der Hirnhemisphären-Lateralisation (Struktur und Dominanz bzw. der Funktionteilung der Hirnhälften). Wird diese Struktur durch Umschulung der Händigkeit gestört, kann es zu massivsten Störungen im Bereich der Gedächtnisprozesse (Lernen, Behalten und Wiederrufen des Gelernten) und der Konzentrationsfähigkeit kommen. Dabei ist es übrigens gleichgültig, ob die Umschulung von der linken auf die rechte oder von der rechten auf die linke Hand – im Falle eines Unfalls – vorgenommen wurde.

Bei Kindern und, mit Einschränkungen auch bei Erwachsenen, äußert sich so eine Umschulung in legasthenischen Eigenschaften, in gemindertem Durchhaltevermögen, geringer geistiger Belastbarkeit, motorischen Störungen und in Sekundärfolgen wie Überkompensation, unregelmäßigen Schulleistungen, geminderter Reproduzierungsfähigkeit des gelernten Stoffes. Weitere häufige Folgen sind Verhaltensreaktionen wie „Kaspertheaterspielen“ oder Rückzugstendenzen, verbunden mit starken Minderwertigkeits- und Versagergefühlen; auch Stottern und Bettnässen können oft damit in Verbindung gebracht werden.

Diesen Schwierigkeiten stehen Eltern und oft auch Lehrer relativ hilflos gegenüber. Gerade für Eltern kann es äußerst schmerzhaft sein, wenn das Kind, das sie bis zum Schuleintritt „gut über alle Gefahren gebracht haben“ (Schwangerschaft, Geburt, erste Entwicklungsjahre) und das sich zunächst geistig wach und hoffnungsvoll entwickelte, dann in der Schule durch seine Leistungen enttäuscht und somit versagt. Ein solcher Bruch trifft die Eltern meist völlig unerwartet. Mit dieser Enttäuschung finden sie sich zunächst nicht so schnell ab, es dauert geraume Zeit, bis dann das Kind endgültig als das „dümmere“, „unbegabtere“ in der Familie neu eingeordnet wird und alle Hoffnungen gegebenenfalls auf eines der Geschwister verlagert werden.

Für das Kind selbst führt diese Veränderung des Sicherheitsgefühls in Bezug auf sein eigenes Können und seine Fähigkeit – verbunden mit der Wahrnehmung der stolzen Zuwendung der Eltern – zu der Erfahrung des unbegreiflichen Versagens und Nichtfunktionierens. Das ist ein äußerst massiver Eingriff in die ganze weitere psychische und kognitive Entwicklung. Das Kind empfindet das als einen unerwarteten Bruch, „der alles ins Wanken bringt“ und es nimmt oft sehr deutlich die manchmal kaum kaschierte Enttäuschung der Eltern (und schließlich ihr Abfinden mit der neuen Situation) wahr. Es entwickelt sich ein neues Selbstbild des Versagers, des Unbegabten, Dummen. Dies drückt sich nicht nur in dem ganzen Erscheinungsbild des Kindes aus, sondern bedeutet oft sogar gesundheitliche Beeinträchtigungen mit tief einschneidenden, persönlichkeitsdeformierenden Prozessen.

Es wird oft gefragt, wie es heute noch zu diesem „massivsten unblutigen Eingriff“ in das menschliche Gehirn kommen kann, „denn es wird doch nicht mehr umgeschult“. Umgeschult wurde aber noch bis vor wenigen Jahren und oft sogar drastisch, z.B. durch Schläge auf die linke Hand oder auch durch Umwickeln der Hand mit einem Handtuch (in mehreren Fällen hat sich der Lehrer sogar auch noch auf die „falsche Hand“ gesetzt) oder „humaner“ durch einen nassen Waschlappen und Festbinden der linken Hand.

Solche Methoden und Strafen sind heute nicht mehr üblich, eher noch der Versuch, dem linkshändigen Kind durch Versprechungen (Geld, Süßigkeiten) oder durch moralischen Druck („Du hast es mir doch versprochen…“) von dem Gebrauch der nicht dominanten rechten Hand zu überzeugen.

Laut Lehrplan für die Grundschule (1. – 4. Jahrgangsstufe, Erstschreiben) kann nämlich der Lehrer bei „leichter Linkshändigkeit eines Kindes behutsam zum Gebrauch der rechten Hand anregen“. Ausgeprägte Linkshänder dürfen nicht gezwungen werden, die Schreibhand zu wechseln. Das heißt aber in der Praxis, dass Kinder, die angeblich keine ausgeprägte Linkshändigkeit aufweisen, weiter umgeschult werden dürfen!

Viele Kinder werden schon vor ihrem Eintritt in die Schule beim Gebrauch ihrer Händigkeit beeinflusst und schulen sich, unter Druck von außen oder sogar aus eigenem Bedürfnis, selbst von der linken auf die rechte Hand um.

Die erste kritische Phase entsteht beim Lernen mit Messer und Gabel umzugehen und beim Handgeben. Gerade in dieser Zeit haben Verwandte und Bekannte großen Einfluss auf das Kind und manchmal genügt relativ wenig Einsatz, das Kind zu überzeugen, „wie alle anderen auch“, rechts, mit dem „schönen Händchen“, alles zu tun.

Diese Umwelteinflüsse können Eltern bis zu einem gewissen Grad kontrollieren. Die Kindergartenzeit ist aber die nächste, äußerst kritische Phase, wo das Kind durch Einfluss der Gruppe (Vorbild, Modell, Nachahmung), Erzieherin oder Eltern anderer Kinder selbst zu dem Entschluss, sich von der linken auf die rechte Hand umzuschulen, kommen kann. Gerade die Kinder, die angeblich keine „stark ausgeprägte Händigkeit“ zeigen, sind äußerst gefährdet.

Durch das Schreiben- und Lesenlernen in der Schule werden die Störungen im Gehirn quasi verfestigt und vertieft und durch Leistungsvergleiche mit Mitschülern die Schwierigkeiten erst richtig manifestiert. Durch Rückkoppelung des Versagens an Ängste vor neuem Versagen verschlimmert sich alles noch weiter. Dabei sind besonders Blockierungen, „Fadenverlieren und Nichterinnernkönnen“, typisch.

Oft kann das Kind zu Hause alles ganz genau; in der Schule aber, wenn es sich gemeldet hat und aufgerufen wurde, kann es das Gelernte und Gewusste plötzlich nicht mehr vorbringen. Eine weitere Schwachstelle sind die so genannten Flüchtigkeitsfehler, die für den umgeschulten Linkshänder typisch sind. Das Kind schreibt z.B. das gleiche Wort auf einer Seite einmal richtig und zweimal falsch. Lehrer und Eltern sind erzürnt und verzweifelt und das Kind tief deprimiert; für dieses ist das eine Qual und Plackerei, die oft jeden Spaß und jede Freude an Schule und Lernen für viele Jahre verdirbt.

Tadel hilft wenig

Dieses Fehlverhalten wirkt manchmal so, als sei bei den Umgeschulten die Verbindung von Gehirn und Ausführungsorgan (Hand und Mund) gestört, als wirke dort ein „Wackelkontakt“, der manchmal den richtigen Befehl und manchmal den falschen Befehl weitergibt. So kommt es zu Flüchtigkeitsfehlern, Verdrehungen von Buchstaben und ganzen Wörtern, Versprechern und manchmal auch zu motorischen Schwierigkeiten. Es hilft dann wenig, das Kind zu tadeln oder durch noch größere Belastungen weiter zu ermüden, denn der Umgeschulte setzt sowieso andauernd ein Vielfaches an Kräften und Anstrengungen ein. Wenn er etwas Erfolg haben will, muss er sich oft komplizierte „Eselsbrücken“ bauen, sich überanstrengen, um mit seinen Mitschülern vergleichbare Leistungen zu liefern.

Für das umgeschulte Kind und oft auch für seine Eltern ist besonders irritierend, dass Denkprozesse und Intelligenz an sich nicht gestört sind, dass aber das Erinnerungsvermögen bzw. die entsprechende Wiedergabe von Gedanken nicht fuktionieren. So geben gerade Umgeschulte ein sehr zwiespältiges Erscheinungsbild ab; auf der einen Seite zeigen sie schlechte mündliche und schriftliche Leistungen und äußern sich eher wenig und unpräzise; auf der anderen Seite überraschen sie wieder durch ihre plötzlichen und unerwartet guten Leistungen z.B. bei Klassenarbeiten oder im Mündlichen. So stellen sie den Lehrer vor Rätsel bei der gerechten Beurteilung der Leistung und dieser führt dann oft die dazu im Kontrast stehenden Minderleistungen auf „Faulheit“ zurück – eine moralische Besetzung, die dann zu weiteren negativen Persönlichkeitsentwicklungen führt (Rückzugs- und Ausstiegstendenzen, Verweigerung, „Faulenzen“ bzw. Lügen usw.).

Für die Persönlichkeitsentwicklung des umgeschulten Kindes ist das Vertrauen von den Eltern und den Lehrern in seine Fähigkeiten genauso wichtig wie Essen und Trinken für den Körper. Umgeschulte Linkshänder sind, wie kaum eine andere Gruppe, abhängig von positiver Verstärkung, von genügend Erholung und einem ausgeglichenen Lebensrhythmus.

Eltern fühlen sich oft hilflos, wenn sie entdecken, dass ihr Kind linkshändig ist; sie wissen nicht, wo sie Informationen oder Unterstützung bekommen können und sind oft ratlos gegenüber den verschiedensten Meinungen, die über Linkshändigkeit und die Behandlung des Kindes verbreitet werden.

Schon die Fähigkeit, Spiegelschrift schreiben zu können, Buchstaben bedenkenlos umzukehren und in der „falschen“ Ecke des Blattes zu beginnen, irritiert sie äußerst – dabei ist es eine besondere Eigenschaft der Linkshänder, mit Leichtigkeit Buchstaben umdrehen zu können, eine Fähigkeit, die mit einer anderen Wahrnehmung zu tun hat. Auch über die angeblich unüberwindbaren Schwierigkeiten beim Schreiben und Basteln (wegen Haltung und Schreib- und Handwerksgerät) fehlt es an Informationen; es gibt Spezialläden, die Füller und Scheren für Linkshänder führen. Die lockere Schreibhaltung kann das Kind lernen.

Oft wird auch die Frage nach Möglichkeiten und Chancen einer Rückschulung bei bereits mit der rechten Hand schreibenden linkshändigen Kindern gestellt, wenn massive Schwierigkeiten in den ersten Schuljahren aufgetreten sind.

In München führen die ONRS (Organisation für neutrale Wissenschaften) und die Interessenvereinigung für Linkshänder kostenlose Beratungen und Informationsgespräche für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder bzw. für Eltern linkshändiger Kinder durch. Inzwischen ist es auch zu einer Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesverband zur Förderung Lernbehinderter gekommen. Vertreter der Interessenvereinigung und der ONRS haben z.B. an deren Vorstandssitzung teilgenommen. Geplant ist eine weitere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Aufklärung und Beratung über Händigkeit.

Beratung ist wichtig

Aufklärung und Beratung sind sehr wichtig, denn je älter das Kind ist, desto schwieriger wird eine Rückschulung. In den höheren Klassen werden immer größere Leistungsanforderungen gestellt (eine schnelle, flüssige und leserliche Handschrift) und die ungeübte linke Hand schreibt meist in einer Schrift, die an Schnelligkeit und Ausdruck etwa der eines Zweitklässlers entspricht. Auf der anderen Seite haben sich Ängste und Fehlverhalten oft schon so tief eingeprägt, dass ein Rückschulungsprozess sehr schwierig ist. Therapeutische Interventionen sind aber auch in diesem Alter wichtig, um die eventuell massiven Folgen der Umschulung psychisch zu verarbeiten und um eine neurotische Umsetzung mit oft gravierenden Persönlichkeitsschäden zu verhindern.

In den ersten Schuljahren dagegen, so bestätigen auch Fachpädagogen, besteht noch eine Möglichkeit, mit Einfühlung und psychotherapeutischer Erfahrung diese Rückschulung vorzunehmen. So ein Eingriff sollte aber möglichst unter therapeutischer Begleitung durchgeführt werden und von allen Seiten erwünscht und akzeptiert sein. Mit dem Kind sollten Lockerungsübungen gemacht und therapeutische Gespräche geführt werden, die ihm helfen, eine entspannte Haltung beim Schreiben zu finden und eine positive Einstellung zu seiner ursprünglichen Händigkeit und der Rückschulung zu gewinnen.

Die Zahl der Therapeuten, die diese Rückschulung fachlich vornehmen können ist allerdings nicht sehr groß (Informationen gibt die ONRS, Sendlinger Str. 18, [inzwischen umnummeriert: Nr. 17] 80331 München, Tel. 089 / 26 86 14).

Ein sinnvoller Beitrag zur Chancengleichheit wäre in diesem Zusammenhang, einen Bonus bei der Beurteilung der schulischen Leistungen von umgeschulten Linkshändern einzuführen, sodass zumindest der gesellschaftlich aussondernde Prozess, der den Umgeschulten von Anfang an massiv trifft (durch die hohen Anforderungen gerade auf den Gebieten, auf denen das Kind durch die Umschulung besonders behindert ist) etwas abgeschwächt wird. Nur so kann die Ungerechtigkeit und die immense Mühe, mit der der Umgeschulte dann oft auf dem Zweiten Bildungsweg an Zeugnissen und „Passierscheinen“ nachholt, was seiner eigentlichen Intelligenz entspricht, gemildert werden. Auf diese Weise können auch Persönlichkeitsdeformationen verhindert werden, die sich aufgrund der von außen zugefügten, aber nicht genau bestimmbaren Ungerechtigkeit aufbauen. Durch die offizielle Anerkennung der umgeschulten Händigkeit als Behinderung könnten diese Menschen zur offenen Auseinandersetzung mit ihren Störungsinhalten, aber auch zum Akzeptieren ihrer Schwierigkeiten (wenn sie die wahre Ursache kennen) kommen und somit lernen, sich auf ihre Behinderung einzustellen um mit ihr zu leben – also ohne Minderwertigkeitskomplexe und ohne eine entsprechende neurotische Entwicklung.

In: Lernen-Fördern. Zeitschrift für Eltern, Lehrer und Erzieher, Heft 5, Oktober 1986

© Copyright: Dr. Johanna Barbara Sattler
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