Spiegelschrift

Spiegelschrift – das „Leonardo-Phänomen“

Ein Phänomen, das allen mit dem Thema der Linkshändigkeit vertrauten Wissenschaftlern und ganz besonders Praktikern bekannt ist, betrifft die Spiegelschrift.

Mit Spiegelschrift ist gemeint, dass mit dem Schreiben vom rechten Blattrand aus begonnen wird und nicht nur die Buchstaben, sondern auch ganze Wörter seitenverkehrt, linksläufig aufgeschrieben werden.

Viele umgeschulte Linkshänder können, meist ohne Schwierigkeiten, mit der dominanten linken Hand Spiegelschrift schreiben. Das kommt spontan, problemlos und ohne nachzudenken. Häufig fühlen sich die Menschen dabei auch sehr wohl. Schwieriger ist für sie allerdings das Lesen von Spiegelschrift, selbst ihrer eigenen.

Viele schaffen es auch ohne Anstrengung, von der Mitte der Zeile beginnend, gleichzeitig mit der rechten Hand nach rechts normale Schrift und mit der linken nach links gespiegelt zu schreiben.

Der berühmteste Linkshänder, der all seine wissenschaftlichen, technischen und anatomischen Studien in Spiegelschrift geschrieben hat, ist der Künstler der Hochrenaissance Leonardo da Vinci.

Es ist anzunehmen, dass er ein umgeschulter Linkshänder war und dass Spiegelschrift für ihn weniger einen Versuch, seine Schriften zu verschleiern und geheimzuhalten, darstellte, wie es heute noch manchmal interpretiert wird, sondern als ein spontaner Ausdruck seines Gedankenflusses zu verstehen ist. Inquisition und prüde Vertreter der Kirche, die sich z.B. für seine anatomischen Studien interessieren konnten, wären schnell hinter das Geheimnis der Schrift gekommen und hätten es mittels eines Spiegels gelüftet. Genauso leicht kann man die Schrift lesen, wenn man das Blatt umgekehrt gegen das Licht hält.

Anatomische Zeichnung Leonardo da Vincis mit Notizen in Spiegelschrift (Königliche Bibliothek auf Schloss Windsor). Abbildung aus Sattler, Der umgeschulte Linkshänder oder Der Knoten im Gehirn, S. 230.
Die verdutzte Reaktion auf dieses Phänomen schildert auch der zeitgenössische Künstler Bernhard Jott Keller in seinem Brief vom 25.2.1987 an die Autorin:

„Liebe Johanna Barbara Sattler,

es gibt nahe zu nichts, was es nicht gibt. Durch Zufall stieß ich auf Ihr „Portrait“ vom 23.2.98 in der Süddeutschen Zeitung. Aber es war wahrscheinlich kein Zufall.

Ich gehöre zu den linkshändigen Menschen, denen die Volksschule noch das rechtshändige Schreiben eingebleut hat. Im Laufe meiner bildnerischen Arbeit entdeckte ich eines Tages, dass ich mit links völlig locker Spiegelschrift schreiben konnte, ohne das jemals vorher geübt zu haben. Seither steht, wenn etwas auf meinen Bildern, die zum Glück schon immer linkshändigen gemalt wurden, zu lesen ist, alles in Spiegelschrift, einschließlich der Signatur.

Das Phänomen, etwas zu können, ohne es jemals trainiert zu haben, bleibt mir bis heute verborgen. Kennen Sie vielleicht den Schlüssel dazu?“

In der Fachliteratur gibt es relativ wenig Hinweise auf das Phänomen der Spiegelschrift und noch weniger schlüssige und einleuchtende Erklärungsversuche. Vieles beruht auf Hypothesen über die Lokalisation des SprachzentrumsI und über eine Spiegelung von Steuerbefehlen in die nicht dominante Hemisphäre bei Umschulung der HändigkeitII. Ohne hier eine Wertung aussprechen zu wollen, soll aber darauf hingewiesen werden, dass bei vielen Prozessen unsere Wissenschaft z.T. noch recht dürftige Möglichkeiten hat, sie angemessen zu erklären. Es ist wohl wichtiger, dass dieses Phänomen regelmäßig auftritt und dass Spiegelschrift ein besonderes Merkmal vieler Menschen mit umgeschulter Händigkeit zu sein scheint.

Bernhard Jott Keller, „Wenig Hoffnung auf Änderung“, 1981. Mit der linken Hand gemalt und mit der rechten Hand den Text eingetragen.

 

 

 

 

Bernhard Jott Keller, „Erleichterung“, 1982. Im Jahr 1982 begann Keller auch mit links Texte zu schreiben und entdeckte überrascht, dass die Worte spontan in Spiegelschrift erschienen. Seitdem integriert er diese Schriftform als Teil des künstlerischen Ausdrucks in seine BilderIII.

Es gibt einfach verschiedene Phänomene im menschlichen Leben, die unsere Wissenschaft noch nicht ausreichend erklären kann, aber mit deren Funktionsweise wir arbeiten müssen und aus denen wir Nutzen ziehen sollen.

Und so stellt der Arzt und Neurologe Manfred P. Heuser in diesem Zusammenhang fest: „Da die Fähigkeit zum spiegelschriftlichen Mitschreiben auf der Gegenseite nicht trainiert werden muss, wird offenbar die hierfür zuständige Hemisphäre automatisch, allerdings spiegelbildlich und mit entsprechender Latenzverzögerung, informiert“, und er fügt hinzu: „Als anatomische Variante gibt es das Phänomen der nicht unterdrückbaren „simultanen“ kontralateralen spiegelbildlichen Mitbewegungen (Synkinesien) der Hände und Füße“, und er weist darauf hin, dass erstaunlicherweise „räumliche Trauminhalte gelegentlich spiegelbildliche Geographien aufweisen können“IV.

In praktischen Untersuchen wäre zu hinterfragen, ob gerade die umgeschulten Linkshänder überproportional häufig und spontan Spiegelschrift schreiben können oder ob auch nicht-umgeschulte Linkshänder ebenso spontan fähig sind, Spiegelschrift zu schreiben. Diesbezügliche Untersuchungen und Befragungen von umgeschulten und nicht umgeschulten Linkshändern in dem Tätigkeitsbereich der Beratungsstelle für Linkshänder legen allerdings nahe, dass das Phänomen der Spiegelschrift bevorzugt bei umgeschulten Linkshänder auftritt. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass es keine einfachen Erklärungen gibt und wir die Zusammenhänge noch nicht wirklich erklären können. Auch bei Rechtshändern kann diese Fähigkeit manchmal auftreten. Umgekehrt sind auch nicht alle umgeschulte Linkshänder fähig, Spiegelschrift zu schreiben. Interessant ist auch der Fakt, dass manche umgeschulte Linkshänder nach der Rückschulung – zum Schreiben mit der linken Hand – diese Fähigkeit wieder verlieren.

Fallbeispiel: Matthias N.Matthias hatte sich, als er eingeschult wurde, an den anderen Kindern orientiert und sich selbst auf die rechte Hand umgestellt. Er bekam bald die verschiedenen Schulprobleme, die seine Eltern zwangen, ihn neunmal die Schule zu wechseln zu lassen. Er verließ schließlich die Schule und machte eine Schuhmacherlehre. Doch die Arbeit füllte ihn nicht wirklich aus, und nachdem er die entsprechenden Aufnahmeerfordernisse über den zweiten Bildungsweg nachgeholt hatte, begann er im Alter von etwa dreißig Jahren, Musiktherapie an der Fachhochschule zu studieren.

Da er meistens beim Rhythmus „daneben war“, ganz besonders, wenn er Schlagzeug spielte, machte ihn einmal sein Lehrer darauf aufmerksam, dass jeder Mensch eigentlich eine stabile Führungsseite habe und dass dies bei ihm offensichtlich nicht die rechte Seite sei. Matthias wechselte nach links, und innerhalb kürzester Zeit gelang es ihm, beim Schlagzeug den Rhythmus zu halten.

In dieser Zeit entschloss er sich auch, die Gitarre umgekehrt zu spielen und sogar wieder links zu schreiben. Zu seiner größten Überraschung schrieb er intuitiv in Spiegelschrift und es ging flüssig und leicht. Daher begann er seine Tagebuchaufzeichnungen und persönlichen Notizen in Spiegelschrift anzufertigen, und bald schrieb er auch so in Vorlesungen mit. Als Nebeneffekt stellte Matthias schnell fest, dass er derartig angefertigte Vorlesungsmitschriften weit besser im Gedächtnis behalten konnte und sie später nur kurz durchzuschauen brauchte, um sich an den Inhalt richtig zu erinnern. Er empfand die Spiegelschrift subjektiv „als weit organischer.“

Seit den zwei Jahren, in denen er dies praktiziert, fühlt er sich unvergleichlich wohler gegenüber früher und hat keine Rückfälle mehr in seinem Studium erlitten. Im Gegenteil, seit dieser Zeit kann er sich Texte weit besser merken, er ist „fähiger, den Lernstoff gut zu strukturieren, „bekommt so viel mehr mit“ als je zuvor, und seine Gedächtnisleistungen sind gestiegen.

Seit er entdeckt hat, dass er die Funktion der Spiegelschrift auf eine gewissen Art und Weise nachvollzieht, wenn er ein Buch „auf dem Kopf“ liest, praktiziert er das inzwischen auch regelmäßig und oft zum großen Erstaunen seiner Kommilitonen.

Fazit: Matthias hat sich durch die Erleichterungen, die er mittels Spiegelschrift erfuhr, für sich allein einen Weg gefunden, die primären Umschulungsfolgen deutlich zu reduzieren, und es gelang ihm, sein Studium ohne nennenswerte Störungen fortzusetzen, zumindest innerhalb dieser zwei Jahren.

Bei der so stark empfundenen Erleichterung durch die Rückschulung der Händigkeit hat sich sicher auf der einen Seite das beidhändige Spielen von Instrumenten als positiver Faktor ausgewirkt. Auf der anderen Seite hat aber seine eher chaotische Schullaufbahn, mit den entsprechenden Ergebnissen, eine wichtige Funktion ausgeübt. Es waren hier wahrscheinlich keine verfestigten Abläufe wirksam, die durch eine Rückschulung der Händigkeit und Andersbelastung der Gehirnfunktionen zu neuen Störungen und Irritationen hätten führen können.

Zu diesen seltenen, derartig positiven Ergebnissen bei einer Rückschulung der Händigkeit führte wahrscheinlich eine Art Multiplizierungseffekt von beidhändigem Musizieren ohne zu sehr verfestigte Lernstrukturen, die sonst auf Eselsbrücken und anderen mnemotechnischen Hilfsmitteln aufgebaut werden.

Interessant ist, dass Matthias betont, dass er seine „gespiegelte Schrift“ auch besser lesen, bzw. den Inhalt besser strukturiert im Gedächtnis behalten kann. Das ist bei den wenigsten der „spiegelschriftfähigen Menschen“ der Fall, die meisten haben eher Probleme, das von der linken Hand spontan und flüssig Geschriebene dann auch lesen zu können.

Rückschulung durch Spiegelschrift?

Sicher ist nicht für jeden Betroffenen eine Rückschulung durch das Schreiben in Spiegelschrift verwirklichbar und akzeptabel. Aber auf der anderen Seite ist diese vielleicht etwas exzentrische und von anderen auch oft als exaltiert wahrgenommene Art zu schreiben doch bei vielen Betroffenen eine Lösungsmöglichkeit, die überdacht werden sollte.

Für Menschen, die sehr wenig von Berufs wegen handschriftlich schreiben müssen, ist die Anwendung dieser Technik möglicherweise am unproblematischsten und sie können durch diese Methode, wie Leonardo da Vinci, ihrer Neigung und ihren Fähigkeiten besser nachgehen. Und den Rückschulanforderungen entsprechen.

Da jedoch die meisten Betroffenen ihre Spiegelschrift nicht automatisch lesen können und manches auch für andere entzifferbar sein sollte, kann man den Kunstgriff benutzen, dass man unter das Schreibblatt ein Blaupapier mit der abdruckenden Seite nach oben legt und sich so auf der Rückseite der Text in normaler Schrift abdruckt. Freunde und Bekannte, die solche Briefe bekommen, werden sich mit der Zeit schon daran gewöhnen. Ein normaler Kugelschreiber drückt ausreichend durch und dies kann sogar „Zeichen eines persönlichen Stils“ werden. Auch die Verwendung eines Butterbrotpapiers, auf das mit Tinte geschrieben wird, ermöglicht diesen Effekt des Lesens auf der Rückseite.

Menschen, die mehr handschriftlich schreiben müssen, z.B. auch im Beruf, werden sich die Anwendung dieses Kunstgriffes natürlich sehr gut überlegen müssen, aber auch hier ist dies in vielen Fällen eine praktikable Möglichkeit. Auch der größere Verbrauch an Papier (weil nur einseitig beschrieben) und die Kosten für das regelmäßig zu wechselnde Blaupapier sind sicher zu verschmerzen, wenn damit eine tatsächliche Erleichterung im Gedankenfluss und eine Verbesserung der sonst oft quälenden Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten einhergehen sollte.

Etwas problematisch ist es natürlich mit Eintragungen in Terminkalendern, weil diese immer auch rückseitig bedruckt sind, so dass man kein Blaupapier dazwischen legen kann.

Fallbeispiel: Herr M.Bei Herrn M. wurde im Sommer 1994 eine Totaloperation des linken Schläfenlappens vorgenommen. Diese war notwendig geworden, da er wegen eines Tumors bereits Wortfindungsprobleme hatte. Bei dem Sprachtest der linken Gehirnhemisphäre vor der Operation blieb die Sprache etwa zwanzig Sekunden weg und kam dann ziemlich gut wieder, und der Professor in der Klinik war irritiert und fragte, ob er wirklich Linkshänder sei (hier hat sich offensichtlich die noch heute oft angenommene Hypothese über die kausale Verbindung der Händigkeit und der Lokalisation des Sprachzentrums ausgewirkt).

Herr M. konnte auch nach der Operation gleich wieder sprechen und hatte einzig leichte Probleme mit sehr schwierigen Wörtern und mit dem Kurzzeitgedächtnis.

Herr M. wurde schon als Kind, noch vor Schuleintritt, von seiner Mutter auf die rechte Hand umgeschult, wobei er alles außer Schreiben weiter links machte.

Seit dem Alter von zehn Jahren hat er Geige gespielt und so erfolgreich und mit Freude, dass er dies im Orchester bis ins Erwachsenenalter, genauer bis kurz vor seiner Operation, zu tun pflegte, dann ging es nicht mehr. Er hat einen technischen Beruf erlernt und als hochqualifizierter Fachmann im Patentwesen gearbeitet.

Interessanterweise sind seine beiden Kinder auch linkshändig veranlagt und wegen Fragen zu ihrer richtigen Schreibhaltung besuchte Herr M. die Beratungsstelle für Linkshänder. Dabei erzählte er, dass er jetzt auch links schreiben müsse, da die Motorik der rechten Hand nicht gut genug sei und er sagte, es ginge ganz gut, aber noch nicht so flüssig, wie er sich das wünschte. Als er aufgefordert wurde, Spiegelschrift zu schreiben, wobei man ein Blaupapier unter das Blatt mit der abdruckenden Seite nach oben legte, schrieb er flüssig und leicht mit der linken Hand. Er war äußerst erstaunt, wie flüssig seine Schrift auf der durchgedrückten Rückseite war. Dann versuchte er, darunter einen ähnlichen Satz nochmal mit links zu schreiben, diesmal aber in normaler Schriftrichtung, also rechtsläufig. Es ist phänomenal, wie weit unsicherer seine Buchstaben dabei ausfielen und wie schwungvoll die linksläufige Spiegelschrift im Gegensatz dazu war.

Mit der linken Hand spontan in Spiegelschrift linksläufig geschrieben

Mittels eines umgekehrten Blaupapiers entstandener Abdruck des in Spiegelschrift geschriebenen Satzes auf der Rückseite des Blattes.

Normale, rechtsläufige Schrift von Herrn M. mit der linken Hand.

 

 

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Fußnoten:
0 Aus: Sattler, Johanna Barbara, Der umgeschulte Linkshänder oder Der Knoten im Gehirn, Auer Verlag, Donauwörth, 1995, 2019 (13), S. 229-238.
I  Schäfer, Ernst L., Das Hand-Buch. Die Linke und die Rechte. Geschichte und Alltag unserer zwei Seiten. Droste Verlag, Düsseldorf, 1988, S. 139f.
II Smetacek, Victor, „Mirror-script and left-handedness.“ In: Nature, Bd. 355, 9.1.1992. S.118-119.
III Beide Zeichnungen sind dem Katalog „Moment mal“ entnommen. Die Bilder stammen von Bernhard J. Keller und die Texte von Felicitas Frischmuth. Kunstverein Coburg e.V., Dussa Verlag, S. 19 und 41, Format 59,4 x 42 cm, Mischtechnik.
IV Heuser, Manfred P., „Das Rätsel des Neckerschen Würfels.“ In: Münchner Medizinische Wochenschrift, 125  (1993), S.47/13-48/814.

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