Wie Schicksale zum Aha-Erlebnis wurden
Ein ganz persönliches Vorwort
Mein Freund Karl war schon auf dem Gymnasium der Beste. Dazu noch offenherzig und sportlich, war er allgemein beliebt, und jeder fand sich leicht damit ab, dass er große Ziele erreichen würde. So beneidete ihn auch niemand, als er an der Universität Medizin zu studieren begann, mit der Ausrichtung auf Chirurgie. Alle wussten, dass er, dank seines guten Gedächtnisses, jedes beliebige Fach genauso gut geschafft hätte, ebenso wie er einmal, auf Grund einer Wette, fünf Sprachen in kurzer Zeit erlernt hatte.
Für seine allseitige Begabung lieferte er schon als Jugendlicher den Beweis, als er mit der Tochter eines Uhrmachers nur die großen Ferien lang befreundet gewesen war und nebenbei von ihrem Vater so viel gelernt hatte, dass er fortan sein Taschengeld mit Uhrreparaturen und -erneuerungen aufbesserte und alten, billig eingekauften Ramsch zu echten, funktionsfähigen Antiquitäten wiederbelebte. Somit schien er für die Feinheiten der Chirurgie prädestiniert und hat auch schnell entsprechende Erfolge gehabt. Seine Assistentenstelle an der Universität wurde dann als selbstverständlich hingenommen.
Ich traf Karl einige Jahre später bei einem Urlaub in Spanien und wunderte mich, was er dort, noch während des Sommersemesters, mache. Er erzählte mir von seinem Pech. Der Oberarzt an der Uniklinik, ein namhafter Chirurg, von dem er sehr viel lernen wollte, war unerwartet zu einem Kongress gefahren, und Karl sprang für ihn ein. Bei einer etwas komplizierten Operation, die er mit dem Team des Oberarztes durchführen durfte, kam es beim Zureichen eines Instrumentes zur Verletzung einer Sehne seiner rechten Hand.
Der Umstand, der zu dieser Verletzung geführt hatte, klang fast wie eine Anekdote: Karls Vorgesetzter war Linkshänder, sein ganzes Team war darauf eingespielt, aber Karl war Rechtshänder. Die Anspannung während der Operation tat das ihre dazu, und durch eine Routinebewegung, die für Karl die „falsche“ war, kam es zu der Verletzung. Da Karl mit der linken Hand nicht operieren konnte, war er außer Gefecht gesetzt und nahm Urlaub.
Und ich hatte wieder Gelegenheit, seine Willenskraft und Durchsetzungsfähigkeit zu bewundern: Er nutzte diese Urlaubszeit mit beeindruckender Konsequenz zu Übungen mit der linken Hand, und das praktisch den ganzen Tag lang. Er schrieb nur links und hatte sich sogar mehrere Fachbücher besorgt, die sich mit dem Training der linken Hand beschäftigten. Er war fest entschlossen, Geschicklichkeit und Präzision der linken Hand derartig zu schulen, dass er zukünftig fähig sein würde, mit beiden Händen zu operieren, dass er sich quasi zwei rechte Hände antrainierte.
Er lachte noch über die unfreiwillige Erfahrung, wie er das erste Mal versucht hatte, mit links etwas Kompliziertes auszuführen, und wie niederschmetternd das Ergebnis gewesen war. Ich habe es dann insgeheim auch versucht und festgestellt, dass bei mir die linke als handelnde Hand praktisch unbrauchbar ist, aber da ich nicht Karls Ehrgeiz besitze, beließ ich es bei dieser Erfahrung. Dann haben wir uns lange Zeit nicht mehr gesehen.
Als ich nach etwa acht Jahren versuchte, einen Patienten in eine geeignete, aber vollbesetzte Kurklinik einzuweisen, stellte ich bei meinen Telefonaten fest, dass der Kurdirektor Karl war. Etwas in seiner Stimme hat meine professionelle Reaktion derart alarmiert, dass ich meinen Patienten persönlich dorthin begleitete. Der Unterton weckte bei mir ganz bestimmte, bekannte Assoziationen.
Und dann saßen wir zusammen, und aus Karl strömten Resignation und Angst vor einem geheimnisvollen, progressiv zersetzenden Gehirnprozeß, der möglicherweise schon eine psychopathologische Symptomatik annahm. Auf der anderen Seite überspielte er alles wieder mit Zwangsoptimismus – er verdiene hier in der Kurklinik viel Geld und habe dabei seine Ruhe.
Er schilderte mir dann, wie er nach der Rückkehr aus Spanien intensiv Neurologie studierte, weil er sich auf Neurochirurgie spezialisieren wollte, und noch intensiver seine Habilitationsarbeit vorbereitete. Und dabei stellte er das erste Mal in seinem Leben fest, dass er plötzlich irgendwie nicht mithalten konnte – er verglich sich mit einem Motor mit unerwarteten Zündungsaussetzern bei vollem Lauf. Sein Gedächtnis versagte beim Abrufen von Lerninhalten, und das steigerte sich von Fall zu Fall durch die Streßsituation, in die er sich in Erinnerung an vergangenes Versagen zunehmend brachte – psychischer Circulus vitiosus. Dann begannen seine Hände zu zittern, und er war nicht mehr fähig, präzise Bewegungen durchzuführen – mit Chirurgie war es zu Ende.
Seine ganze Welt stürzte zusammen. Alles, worauf er sich seit seiner Kindheit sicher verlassen konnte, war zerbrochen. In einer Nacht rettete ihn nur ein Zufall vor der Durchführung des präzis vorbereiteten Suizids.
Die verschiedensten Diagnosen wurden durchexerziert, von beginnender endogener Psychose über Multiple Sklerose, Parkinsonsche Krankheit bis zu Morbus Alzheimer – alles ohne jeden Befund. Karl begann zu trinken, bekam erste Konflikte mit dem Dekan, dann mit der eigenen Frau und löste beide mit Hilfe seines Vaters, der ihm diese Direktorenstellung in der Kurklinik verschaffte. Nach der Scheidung will er vorläufig keine neue Beziehung eingehen, und, wie er sagte, leidet er unter hypochondrischen Ängsten und Furcht vor der Zukunft. Diese Diagnose konnte ich nur bestätigen, gab ihm einige obligatorische Weisheiten für seinen weiteren Lebensweg mit und verließ ihn mit dem bohrenden Gefühl der Ohnmacht, weil auch ich keine Erklärung für seine Beschwerden wusste. Karl bliebt für mich wie ein Menetekel des unbegreiflichen Schicksals, das ich zu verdrängen suchte.
Später, als ich bereits eine längere, ziemlich erfolgreiche psychotherapeutische Praxis nachweisen konnte, wurde einmal ein hoher Ministerialbeamter zu mir empfohlen. Er hatte fünf unterbrochene Psychotherapien hinter sich mit zwei Suizidversuchen, und vor sich hatte er die Perspektive einer jäh endenden Karriere durch Versetzung ins Abseits oder sogar durch vorzeitige Pensionierung. Er schilderte mir mit beträchtlicher, resignierender Routine sein Schicksal. Begonnen hatte alles mit der Verwicklung in einen Autounfall, an dem er zwar unschuldig war, es ist dabei aber zur Tötung eines Kindes gekommen. Danach kamen Depressionen…
Seine Frau verließ ihn und nahm alle drei Kinder mit. Dann verlor er jede finanzielle Rücklage durch falsche Beratung und Konkurs der Anlagegesellschaft. Nach Rückkehr von einer Auslandsreise stellt er fest, dass sein Einfamilienhaus nicht nur ausgeraubt, sondern auch angezündet worden war, und man wies ihm eine Unterversicherung nach.
Dann hielt er einen routinemäßigen Vortrag vor einem EG-Ausschuss, und plötzlich verlor er völlig den Faden, sein Gedächtnis versagte, er begann zu stottern und stammeln und verließ schließlich, in spontaner Panik, fluchtartig den Saal. Danach geschah es mit erschreckender Regelmäßigkeit immer wieder, dass er schon bei einer harmlosen Sitzung seine Rede vergaß und alles ablesen musste, wobei auch das nicht immer gelang, vor allem wenn Zwischenfragen kamen.
Die bei ihm durchgeführten Untersuchungen ließen in mir plötzlich Erinnerungen an Karl mit seinen „Gedächtnisfehlzündungen“ aufkommen: Nachdem der Patient selbst charakterisierte, dass er irgendwie fortschreitend „verblöde“, suchte man nach Psychose, Multipler Sklerose oder Morbus Alzheimer – genauso wie bei Karl und auch ohne jeden Erfolg. Ich versuchte alles, was Nervenärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten an diagnostischen Möglichkeiten zur Verfügung steht, und ging bis in seine früheste Kindheit zurück, ohne nur die geringste Spur eines Anhaltspunktes zu finden.
Eines Tages betrachtete der Patient bei mir ein Plakat an der Wand, das die neueste Ausstellung in memoriam Leonardo da Vincis ankündigte. Ich beobachtete, wie ihn die dort reproduzierte Spiegelschrift von Leonardo da Vinci richtiggehend faszinierte, und erklärte ihm, dass der hochbegabte Wissenschaftler und Künstler alle seine Aufzeichnungen in Spiegelschrift ausgeführt hätte, um sie angeblich nicht für jeden lesbar zu machen. Und mein Patient sagte amüsiert, dass auch er Spiegelschrift schreiben könne, und ich erinnerte mich plötzlich an den Vortrag einer Kollegin, wie sie so nebenbei anführte, dass Spiegelschrift schreiben zu können zu den Fähigkeiten von Linkshändern bzw. von umgeschulten Linkshändern gehöre. Mein Patient wehrte sich aber entschieden, ein Linkshänder zu sein; ich ließ trotzdem nicht locker und brachte ihn zu Dr. Sattler und ihrer Computeruntersuchungsapparatur, die mich einmal als absoluten Rechtshänder entlarvt hatte. Bei dem Patient geschah das Gegenteil – er zeigte sich als eindeutiger Linkshänder, der auf die rechte Hand umgeschult worden war. Und dann erinnerte er sich erst, dass er früher weit mehr die linke Hand zum Ausführen verschiedener Tätigkeiten benutzt hatte – hauptsächlich wenn Kraft und Genauigkeit gefordert waren – und dass er sogar noch im Kindergarten mit links zu schreiben begonnen hatte. Aber das war ihm schnell und erfolgreich ausgetrieben worden.
Ich begann mich mit der Arbeit von Dr. Sattler intensiv zu beschäftigen und nahm gleichzeitig Kontakt mit einer Vielzahl von Psychotherapeuten auf. Wir suchten nach Patienten mit einer ähnlichen Symptomatik – bei denen keine Therapiemethode richtig ansprach – und schleusten sie durch die Computeruntersuchungsapparatur zur Feststellung der Händigkeit. Zu unserer größten Überraschung handelte es sich bei fast allen um umgeschulte Linkshänder; zwei waren sogar nach Verletzungen umgeschulte Rechtshänder.
Und ich sah die – mangels Nachvollziehbarkeit – so fremde, individuelle und einsame Welt (von Menschen nach einer Umschulung der Händigkeit mit deren massiven Auswirkungen) – und zwar in ihrem Endstadium – vor mir.
Die Lebenstragödie von Karl bekam plötzlich Erklärung und Begründung. Durch die selbst durchgeführte Umschulung, durch das massive Training seiner linken Hand, wurde er mit allen Umschulungsfolgen konfrontiert, mit denen sich auch ein „normal“ umgeschultes Kind herumschlagen muss, verstärkt aber noch durch den Effekt, den wir von Kinderkrankheiten kennen: Wenn sie ein Erwachsener bekommt, verlaufen sie weit schlimmer.
Bei dem Ministerialbeamten lag der Fall anders, aber wieder absolut eindeutig: Alle die zusätzlichen Kräfte und Anstrengungen, die er lebenslang gebraucht hatte, sich „Eselsbrücken“ zu bauen, um eine seiner Intelligenz entsprechende Leistung erbringen zu können, waren auf einmal weg. Dieses gesamte zusätzliche Energiepotential ging durch den vorrangigen „Saugeffekt“ der emotionalen Belastungen plötzlich verloren. Sein Unfall und dessen Folgen hatten eine primäre Rolle in seiner Psyche eingenommen.
Nur durch ständig erhöhte Konzentration kann ein umgeschulter Linkshänder die zusätzlich benötigten Kräfte aufbringen. Die Kräfte aber, die durch die Gefühlsbelastung entzogen werden, fehlen ihm dann bei Denkreaktionen, beim Bau von „Eselsbrücken“ und bei eingeübter komplizierter Hirnarbeit: Sein Gedächtnis versagt. Und dann läuft es nach den gleichen Gesetzen ab, die z.B. auch Schlaf- und Potenzstörungen betreffen: Es genügt die Erinnerung an das Versagen, um ein neues Versagen herbeizuführen.
Heute kenne ich hunderte von Beispielen, mit denen auch meine Kollegen konfrontiert waren und die sicher nur einen Bruchteil der menschlichen Tragödien widerspiegeln, weil nur ein Bruchteil der Betroffenen Hilfe in der Psychotherapie sucht.
Wir haben durch die Praxis hier ein neues, schwerwiegendes Phänomen erkennen gelernt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit tief selektive Auswirkungen im Bereich der Chancengleichheit in unserer Kultur- und Leistungsgesellschaft hat. Die Weichenstellungen in dem modernen, hochentwickelten Lebenssystem bauen auf den verschiedensten Prüfungen seit Kindesalter auf, und hier sind die Karten für umgeschulte Linkshänder von Anfang an falsch verteilt. Und niemand merkte das, bis eine Wissenschaftlerin sich damit intensiv zu beschäftigen begann.
Für mich begann die Forschung von Dr. Sattler immer deutlicher einen Meilensteineffekt zu zeigen. Von dem Gesichtspunkt eines jahrelang praktizierenden Psychotherapeuten aus wird das vielleicht einmal einer der wichtigsten existenzbestimmenden Faktoren, die in diesem Jahrhundert entdeckt wurden. Die Faszination, die diese Forschungsergebnisse ausüben, bezieht sich vor allem auf die Verbindung der Theorie mit der Praxis, die sich andauernd durch die geleistete Arbeit zieht. Der Aha-Effekt, den man bei der Konfrontation mit dem lebensnahen Werk des Arbeitsteams von Dr. Sattler bekommt, ist verblüffend.
Wo früher hunderte von komplizierten Theorien wuchern konnten, steht hier eine klare, in ihrer Selbstverständlichkeit absolut begreifliche Kausalität, und man wundert sich nur, wieso das einem früher nicht selbst aufgefallen ist… warum man nicht selbst die so klar sichtbare „Ursache und Wirkung“ in Relation gestellt hat.
Und es ist um so erstaunlicher, dass man in vielen wissenschaftlichen Richtungen diesen Erkenntnissen in verschiedenen Segmenten sehr nahe kam, Einzelergebnisse aber nie in die Ganzheit summierte und gegenseitig ergänzte. Aber das ist wahrscheinlich der gleiche Effekt wie bei allen großen Entdeckungen.
Das Ganze wurde dann verdienterweise auch durch hohe Anerkennung des Internationalen Neurophysiologischen Kongresses in Istanbul 1987 honoriert, wo Dr. Sattler die Ehre gewährt wurde, persönlich einen Vortrag (auf englisch) zu halten. Und danach schrieb man über sie und ihre Arbeit in der ganzen Welt, es folgten unzählige Rundfunk- und Fernsehsendungen, die Pressemappe allein ist heute über dreieinhalb Zentimeter dick.
Und mir wurde auch bewusst, dass wir es hier mit einem klassischen Fall zu tun haben, wo durch Präventivmaßnahmen praktisch die gesamte Problematik gelöst werden kann, und dass hier gleichzeitig ein außergewöhnliches Beispiel der vorbildlich günstigen Kosten-Nutzen-Relation vorliegt. Je früher diese Prävention stattfindet, umso erfolgreicher wird sie. Das bedeutet, man muss in den Kindergärten und in den Grundschulen beginnen. Und gerade in diese Richtung zielt die gesamte praxisbezogene Arbeit von Dr. Sattler, was in diesem Buch deutlich dokumentiert ist.
Dr. Ivo-Kurt Cizek, Dipl.-Psych., M.A. (Soz.)